Kapitel 2: Bartlebys Start in die Arbeitswelt

Zwölf oder dreizehn muss ich gewesen sein, als Vatta mich zur Seite nahm und sagte: "Tja, Experimentierkästen sind teuer, und sowas gibt es nur zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Aber du scheinst ja wirklich das ganze Programm haben zu wollen. Komm doch mal in den Ferien zu mir ins Büro und mach Ablage. Für fünf Mark die Stunde biste dabei"

Und so lernte ich in den Ferien den Unterschied zwischen Rechnung und Lieferschein. Es gab noch mehr Papier, aber vieles wurde einfach ungelesen abgeheftet, einige Lose-Blatt-Sammlungen mussten auch penibel genau auf den neuesten Stand gebracht werden und vieles landete einfach beim Kollegen unterm Tisch, dem Papierkorb.

Na jedenfalls lernte ich eifrig (besonders durch die neu erworbenen Experimentierkästen, so dass ich in den naturwissenschaftlichen Fächern dem Lehrplan bis zur gymnasialen Oberstufe um einige Jahre voraus war. Was mir lustige Möglichkeiten im Unterricht bot, wenn meine Modelle von Atomen oder sonstwas denen des Lehrers gerade überlegen waren. - "Kann sich Bartleby denn nicht mal das nächste halbe Jahr zurückhalten?", fragte meine Chemielehrerin irgendwann während eines Elternsprechtags meine Mutter, "die Eins bekommt er natürlich trotzdem weiterhin."

Natürlich konnte Bartleby nicht darauf verzichten, der Lehrerin die Show zu stehlen: ich wusste die Ergebnisse aller Versuche (wenn es denn überhaupt mal welche gab) schon vorher und warnte meine Mitschüler vor, ich lernte keine Vokabeln und perfektionierte das Werfen von Wasserbomben, bis mich irgendwann Faulheit, Übermut und Pubertät ein Jahr zurückwarfen.

Aber an dieser Stelle von Verschwendung zu reden, wäre der Sache nicht gerecht, weil ich in der neuen, recht braven Klasse einen viel höheren sozialen Status hatte - und plötzlich sogar eine Freundin. Mit ihr und ihrer Clique verbrachte ich viel Freizeit. Nur, dass ich wegen meiner Unerfahrenheit die Freundschaft nicht zur Liebe ausbauen konnte, frustete wohl uns beide: Plötzlich war ich ein Würstchen, während sie Autogrammkarten für gezeichnete Portraits bekam. Von irgendeinem mittlerweile längst verstorbenen ItaloWestern-Helden mit O-Beinen und eher slawisch-asiatischer Herkunft.

Seine Filmographie habe ich ihr noch abgetippt, denn in irgendwelchen Osterferien hatte ich das Tippen autodidaktisch gelernt - auf einer mechanischen Kofferschreibmaschine, auf der ich Jahre später sogar noch irgendeine IHk-Prüfung ablegte und sämtliche Mitteilnehmenden ausstechen sollte, aber das kommt vielleicht später noch etwas genauer. Meine Mutta war jedenfalls der Ansicht, dass es sinnvoll sein könnte, als künftiger Informatik-Schüler tippen zu können ... nunja, für die Informatik war es nicht wirklich sinnvoll, denn der spärliche Programmcode, der sich bei dem zunächst im Unterricht verwendeten Taschenrechner namens TI57 eintippen liess, konnte eh nicht über eine Schreibmaschinen-Tastatur eingegeben werden, sondern nur über diese elenden Taschenrechner-Tasten, die auch schon bald ihre Entprellung verloren hatten und dann gleich mehrfach denselben Sermon von sich gaben, auch wenn ich wirklich nur einmal gedrückt hatte.

Mein Taschengeld verdiente ich zu dieser Zeit übrigens in einer Bäckerei, indem ich mit nem Kollegen geschnittenes Brot in Plastikfolien abfüllte und Paniermehl aus alten Brötchen mahlte. Ab und zu gab es auch noch die Büro-Jobs beim Vatta, aber sie wurden seltener, da der Chef es immer weniger duldete, dass sich Ablage-Berge bildeten, die meine Beschäftigung gerechtfertigt hätten.

Aber die neunte Klasse brachte mir mit dem Ende der Schulpflicht auch noch ein Praktikum ein: Zahntechnik - mal wieder in den Osterferien ...

Jedenfalls bog ich Drähte, modellierte Zähne aus Wachs in überdimensionalen Größen und hätte einen Lehrvertrag bekommen können, wenn mir mein Abi und die Frau mit dem B-Picture-Geschmack nicht wichtiger gewesen wären - ausserdem stank es in der Werkstatt mitunter ziemlich penetrant und vermutlich recht gesundheitssschädlich.

Jetzt, da ich meine Brötchen mit dem Abtippen von Frachtbriefen verdiene, scheint dieses Geschäft in den Osten abgewandert zu sein, wie ich mir aus den diversen hin- und hergeschickten Zahnabgüssen, -abdrücken und -formen zusammenreimen kann.

Küssen konnte ich noch immer nicht, aber mittlerweile hatte ich ein eigenes Moped, mit dem ich sogar auf der Autobahn fahren durfte. Und so fuhr ich mal ganz allein zu ner Teeny-Disco, von der ich in irgendeinem Veranstaltungsblatt gelesen hatte, um irgendeine Schnecke anzugraben.

Ich grub mit Erfolg an, sammelte meine Erfahrungen, verliebte mich, verlor meine platonische Liebe (nachdem sie wohl maßlos eifersüchtig geworden sein muss) sowohl aus den Augen als auch aus meinem Bekanntenkreis - und dann verlor ich die Lust an meiner ersten tatsächlichen, wirklichen körperlichen Geliebten (die dramatischen Umstände erspare ich sowohl mir als auch meinen verehrten Lesenden - zumindest vorerst^^). Puh, wie grauslich sich dieser Absatz liest ... egal - ich hab noch viel vor, also weiter in den Kapiteln.